"Wir wollen regieren, um das Versprechen vom Wohlstand für alle zu erneuern." Diese Worte standen vergangene Woche am Beginn der ersten Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz. Wenn er die Ankündigung ernst meint, muss seine schwarz-rote Regierung die Verteilungspolitik in den kommenden Jahren ins Zentrum stellen. Ein gerechteres Steuersystem, ein starker Sozialstaat und die Förderung von guten Löhnen und Tarifverträgen müssen eine viel größere Rolle spielen, als bisher.
Schließlich kommt der Wohlstand in Deutschland derzeit keineswegs allen gleichermaßen zugute und die Ungleichheit hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das reichste Prozent in Deutschland besitzt allein rund 30 Prozent des gesamten Vermögens, das reichste Zehntel sogar mehr als 60 Prozent. Laut offizieller Statistik leben mittlerweile fast 900.000 Menschen in Deutschland nicht von eigener Arbeit, sondern von Zinsen, Dividenden und Vermögen.
Und auch bei der Höhe der Einkommen machen regelmäßig neue Studien die Verschärfung der Ungleichheit klar. Der WSI-Verteilungsbericht vom letzten November zeigt beispielsweise, dass der Gini-Koeffizient, der die Einkommensungleichheit misst, nach neuesten verfügbaren Daten von 0,28 im Jahr 2010 auf 0,31 im Jahr 2021 wellenförmig angestiegen ist – den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist im selben Zeitraum um mehr als 3 Prozentpunkte auf 17,8 Prozent gestiegen und erreichte damit ebenfalls einen Höchstwert.
Gleichzeitig zeigt das WSI in einer anderen Untersuchung, dass Deutschland bei der Bekämpfung von Einkommensungleichheit und Armut nachgelassen hat. Zwar wirken sowohl das Steuersystem als auch der Sozialstaat in Richtung sozialen Ausgleichs, doch weniger stark als in früheren Jahren. Dabei finden laut einer Umfrage rund 60 Prozent der Erwerbspersonen, dass der Staat zu wenig gegen soziale Ungleichheit tut, nur rund 15 Prozent sehen das anders.
Bevor der Staat mit Steuern umverteilt, erkämpfen Gewerkschaften in Tarifverhandlungen eine gerechtere Einkommensverteilung. Allerdings arbeitet mittlerweile nur noch rund die Hälfte der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben, weil viele Arbeitgeber Tarifflucht begehen.
Für uns ist es höchste Zeit, den Ursachen und Auswirkungen gestiegener Ungleichheit genauer auf den Grund zu gehen: Wie sind Chancen, Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe heute in der Bevölkerung verteilt – auch im internationalen Vergleich und zwischen den Geschlechtern?
Welche Auswirkungen haben diese Ungleichheiten auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die wirtschaftliche Entwicklung und die Stabilität der Demokratie? Wie können wir das Tarifsystem, das Steuersystem, aber auch den Sozialstaat und das Angebot an öffentlichen Dienstleistungen so stärken, dass sie die Ungleichheit effektiv reduzieren? Wie ist der neue Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vor diesem Hintergrund zu bewerten?
Diese und weitere Fragen möchten wir mit zahlreichen Expert*innen aus Wissenschaft, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Politik auf unserer DGB-Konferenz "Wohlstand für Wen?" am 24. Juni in Berlin diskutieren. Hier geht es zum Programm und zur Anmeldung der Konferenz.